Ausstellung «Slomo» im Trudelhaus Baden
Ein Gastspiel des Kuratorenteams vom Vebikus Schaffhausen:
André Bless, Katharina Bürgin, Andreas Lüthi, Leo Bettina Roost
Von Fangnetzen und Phänomenen
Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst, von Christian Morgenstern:
Soll i aus meim Hause raus?Soll i aus meim Hause nit raus?Einen Schritt raus?Lieber nit raus?Hausenitraus –HauserausHauseritrausHausenausRauserauserauserause. . .1
Raus aus dem Schneckenhaus!, Guten Abend liebe Vernissagegäste, liebe ausstellenden Künstlerinnen und Künstler, liebes Trudelhausteam.
Ob Sie von unten gekommen sind oder von oben, so oder so mussten Sie mindestens eine Stufe überwinden. Ein kleiner Stolperstein als Impulsgeber. Terrainverschiebung ist angesagt. Ein erfrischendes Lüftchen zieht sich durchs Trudelhaus, zuweilen kann es jedoch unangenehm modrig werden. Fallen sind gestellt: engagiert, humorvoll, voller Sensibilität. Sie merken schon, dass sich einiges vermischt, was meist gesondert gesehen – und dabei unendlich viel verpasst wird.
Ich muss mich für einen Eingang entscheiden und betrete die Ausstellung für meine Einführung über den kleinen Brückenweg aus Holzbalken. Mein Eintreten wird sogleich mit Abwehr, einer Abwehrhaltung, konfrontiert. Habe ich irrtümlich, versehentlich, habe ich rein zufällig einen falschen, unliebsamen Weg gewählt? Ein Graben tut sich auf, wie wenn eine Zugbrücke zurückgezogen und gleichsam eingerollt worden wäre. «Umarmer» heisst die Plastik von Leo Bettina Roost. Der Titel verweist auf eine einladende, schützende Geste, die formale Erscheinungsweise des labyrinthartigen Hindernisses gibt dagegen Ausgrenzung zu spüren. Geradezu zynisch wirkt nun der Titel. An einen Gartenzaun lässt das Gebilde aus Holzlatten und Metallverstrebungen denken. Erst langsam realisiert man, wie das Gestänge das Innere und das Äussere unentwirrbar verzahnt. Zur Farbwahl, aussen grün und innen braun, sagte mir die Künstlerin, dass sie bei der Konzeption der Arbeit an das Grün der Autobahnschilder und an das Braun der Kulturwegweiser gedacht habe. Schnelle Verbindungsstrassen bringen Menschen der unterschiedlichsten Länder zusammen, doch der Einlass ins kulturelle Herz verläuft deutlich harziger. Abschottung engt den Brustkorb ein. Der «Umarmer» verdichtet Lebensumstände objekthaft und er erinnert an einen Menschen: an dessen Rippen, an die Stützkraft des menschlichen Skeletts, an die Grösse eines Menschen – wenigstens in Zentimetern. In der Grenzziehung erstarrt das Gebilde, bewegungslos steht es vor einem. Die in der Progression und in der formal angelegten Drehung als Potenzial vorhandene Bewegungsenergie läuft unentwegt ins Leere. In den begleitenden Landschafts-Zeichnungen werden wechselnde Verwicklungen austariert.
Es herrscht ein betont körperlich aufgeladenes Raum-Klima. Die Zeit spaltet sich in Zeiten. Mediale Unterschiede unterstreichen die wahrgenommene Empfindung von Zeitlichkeiten. Unsichtbar gespannte Fäden halten die Zeitempfindungen zusammen. Farbverwandtschaften knüpfen unterschwellig optische Verbindungslinien. Aus einem Fenster glaubt man an der Stirnwand zu blicken. Der vorgestellte «Fensterausblick» lässt eine Landschaft erahnen, vielleicht eine Gartenlandschaft. Doch auch sie scheint eingefroren im rahmengebenden Fokus. Alles ist unscharf, bis auf eine klar erkennbare Schnecke, deren Bewegung erst mit der Zeit wahrgenommen wird. «Loop» heisst die Arbeit von André Bless, der den realen und den virtuellen Raum sich überlagern lässt, oftmals verbunden mit einer kaum merklichen, sich langsam entfaltenden Irritation,
Und sie bewegt sich – doch. Senkrecht von unten hat André Bless die an einer Glasscheibe haftende Schnecke gefilmt. Ihre Drehung um die eigene Achse mutiert zu einer Endlausschlaufe. In wiederkehrenden Anläufen tasten sich die mit Augen besetzten Fühler der Schnecke in den Raum. Als Betrachtende glauben wir, das Weichtier im Verfolgen der sich windend entfaltenden Bewegungen in seiner realen Körperlichkeit greifbar vor uns zu haben. Als Loop wird neben der Filmschleife auch ein geschlossener Rohrkreislauf bezeichnet, in dem Materialtests unter verschiedenen Bedingungen vorgenommen werden. Die Schnecke führt gleichsam Stichproben aus. Alles ist dabei von einer enormen Langsamkeit getragen. Die unsichtbare Fensterscheibe schiebt sich in unser Wahrnehmungsbewusstsein.
Zu Aufklärungszwecken wurden einst in der Schule Schulwandbilder lose in den Raum gehängt. Vielleicht erinnert sich die eine oder der andere noch daran. Katharina Bürgin legt Projektion auf zauberhafte Art entzaubernd offen. Ihre in einem sehr weit gefassten Sinn von der Natur inspirierten Arbeiten bringen eine illusionäre Kunst-Welt mit flüchtigen Naturanklängen hervor. «Gartenarbeit» wird zur Kultivierung der Wahrnehmung. Katharina Bürgin arbeitet mit halbtransparenten Polyesterfolien, wie sie auch für Planzeichnungen gern verwendet werden. Das Aufscheinen und Verblassen, Entwickeln und Verfallen pflanzlicher Organismen schlägt sich transformiert in ihren bildhaften Verflechtungen nieder.
Die Bilder hängen gleich entrollten Projektionsflächen im Raum. Frei im Raum: eine eigentliche Vorder- oder Hinterseite gibt es nicht. Es herrscht eine membranartige Durchlässigkeit, die vor allem vom Licht gesteuert wird. Der Eindruck einzelner Sensorfelder entsteht. Zeichnung und Malerei und die Manipulation der Folie mit dem verwendeten Schellack initiieren ein Vexierspiel zwischen Präsenz, Entwurf, Idee und Illusion. Auch der Umgang mit den unterschiedlichen Perspektiven weicht die Orientierungsvorgaben auf. Der aufgeklappte Grundriss gibt in der Ferne quadratische Flächen mit Kreispunkten zu erahnen, die beinahe den Charakter von Zielscheiben, ja Gefängnismauern haben. Ein Hortus conclusus mit vielen Fragezeichen. Wie, auf welche Art, und wie viel Erinnerung spielen in unsere Wahrnehmungsfindung hinein – und damit in den flüchtigen Aufbau von Identität?
Horizonte gibt es unendlich viele, den Ring des einen Horizonts gilt es daher zu durchbrechen. Horizonterfahrung ist ein Schwellengang.
Linie über Linie, Horizontale über Horizontale in vertikaler Reihung, unterschiedlich in der Ausdehnung, zuweilen zum Balken geweitet. Subtil das Zusammenspiel der Farben, die in sich selbst zusätzliche Nuancen zum Er-Klingen bringen. Tiefgründig ist der Auftrag der geschichteten Farbe, die das traditionell räumliche Denken in andere Bahnen lenkt. Das Sehen und Erleben der Welt hallt nur mehr nach. «La Pasada» heisst die neuste Arbeit von Andreas Lüthi. Pasada heisst Durchgang, auch Überfahrt. Symbolkraft erhält der vertikale weisse Schlitz. «Ich bin daran, Neuland zu betreten», schrieb mir der Künstler. Vieles ist offen, das Sich-Eröffnen ist entscheidend, für jeden und jede auf persönliche Art und Weise. Als ich mich mit den Künstlerinnen und Künstlern erstmals gemeinsam getroffen hatte, schienen mir die vier recht deutliche Grenzziehungen zwischen ihren Arbeiten zu machen. Doch im Laufe des Gesprächs schälten sich mehr und mehr potenzielle Gemeinsamkeiten in den persönlichen Anliegen heraus, was auch das kuratorische Wirken konkret beeinflusst hat.
Jede Horizontverschiebung löst einen Blickwechsel aus, gedankliche Einschübe von ausserhalb rücken die eigene Arbeit wie die des andern plötzlich in einen anderen Wahrnehmungskontext. Die ausgestellten künstlerischen Arbeiten weisen – mal deutlicher, mal verborgener – selbstporträthafte Züge auf, die überindividuelle Interessen einschliessen.
Die Überfahrt geht mit einer Terrainverschiebung einher, was längst nicht auf räumliche Ortsbezogenheit beschränkt sein muss. Vielleicht wird der Horizont vermehrt im Dazwischen gesucht.
«Covers of Covers» heisst eine zehnteilige Serie von Andreas Lüthi. Die Coverversion von Songs ist geläufig, das Covern von Covers weniger und das Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Cover noch weniger, im Grunde kaum. Man kann an die Schallplattenhülle und das Titelbild denken, oder aber auch an einen Deckel, eine Abdeckung. Eine latente Paradoxie klingt an. Wenn man den Weg über französische und lateinische Wortursprünge nimmt, wird die ganze Angelegenheit noch absurder und ebnet gleichzeitig aufklärerischen Tendenzen den Weg – bildlich gesprochen. Das wörtlich genommene Bedecken von etwas, mit dem etwas bedeckt wird, schafft auch eine Verbindung zu Leo Bettina Roosts plastischem Objekt «Umarmer».
Etwas salopp ausgedrückt, könnte man formulieren, dass die Arbeiten im Obergeschoss allesamt thematisieren, wie die Lebendigkeit in der alltäglichen Wahrnehmung unter dem Deckel gehalten wird. Vor der Cover-Serie von Andreas Lüthi stehend, dachte ich an die Ausstellung «Rhythm in it», welche vor vier Jahren im Aargauer Kunsthaus eingerichtet worden war. Rhythmus wird in den von persönlich akzentuierten Streifenkompositionen geprägten Coverversionen zu einem sinnlichen Erlebnis. Emotional unterlegt ist die geistig-visuelle Transformation. Was hören wir, wenn wir sehen? Etwas versteckt, hängt ein weiteres Aquarell im Treppenhaus des Trudelhauses. «Hilarion» aus der Serie «ZIgZag». Die weiss angemalten Holzbalken der Deckenuntersicht der bestehenden Architektur regen zu einem visuellen Austausch mit den gestaffelten Farbstreifen an. Gedanken an Entmaterialisierung und Verkörperlichung folgen auf den Tritt.
Mehr und mehr wird erfahrbar, wie das architektonische Volumen des Trudelhauses durch die durchdachte kuratorische Arbeit Stockwerk um Stockwerk aufgebrochen wird. Physiologische, meteorologische und akustische Begebenheiten und Phänomene erfüllen den Raum. Muster finden sich im Alltag überall, das Dasein ist eine Art Chemiecocktail. Das mittlere Geschoss spielt mit lichtvoller Leichtigkeit und macht Unsichtbares sichtbar, höchst poetisch, witzig, aber auch nachdenklich stimmend in der Wirkkraft fragiler Flüchtigkeit. André Bless, der das Licht zu seinem Leitmedium macht, trägt mit einer Lichtprojektion das Zirkulieren der Luft in die Sichtbarkeit. Gegenlicht und Blendeeffekte bestimmen die Stimmungsqualitäten in der Arbeit von Katharina Bürgin, während Andreas Lüthi im grossen quadratischen Aquarell «Siesta 2» die schwebend-schimmernden Lichtverhältnisse hinter dem Schutz von Jalousien in südlichen Ländern im Raum sich ausbreiten lässt. Grösste interpretatorische Offenheit ist dem «Wolkenfänger» von Leo Bettina Roost eigen. Da ihr zentrales Thema in Fragen der Migration wurzelt, wollen die in der Arbeit mitschwingenden Assoziationen an Wasser in den verschiedensten Erscheinungsformen auch in dieser Richtung weitergedacht werden.
Erneut führt eine Werkserie entlang der schmalen Gangwand hin zur Treppe und ins nächste, diesmal ins Untergeschoss. «Ruby Eyes» heisst die Gruppe von C-Prints auf Glas von André Bless. Was sieht man, was glaubt man zu sehen? Wissenschaftliche Aufnahmen von Fischaugen, oder schiebt sich vielleicht die Erinnerung an Duchamps berühmte «Rotoreliefs» aus dem Jahre 1935 in den Deutungskanal, oder denkt man an die roten Augen, wenn mit Blitzlicht fotografiert wird, ja, vielleicht grundsätzlich an eine Kamera? Ein Rotieren stellt sich gleich in verschiedenster Hinsicht und auf verschiedenen Ebenen ein. Und ein Schmunzeln dürfte entlockt werden, wenn die Lösung in fast leergetrunkenen Weingläsern zu finden ist.
Die Punkte beziehungsweise Kreisflächen in Andreas Lüthis Gemälde «Funky» scheinen die flippige Stimmung der Entfesselung aufzunehmen. Gleich Seifenblasen sind sie locker tänzelnd auf der Bildfläche verteilt. Höchst wirkungsvolle Kleinigkeiten laden auch hier wieder zu einer zeitbewussten Betrachtung ein. Blattsilber wurde für vereinzelte Farbpunkte verwendet. Silber oxydiert – von den Rändern her, da dort selbst kleinste verletzte Stellen besonders auf Einflüsse von aussen reagieren.
«funky» heisst auch bange und merkwürdig. Unwirtlich wird es im Untergeschoss, diesem feucht-dunkel empfundenen Ort. Es tropft ohne reale Tropfen. Ob Regenwasser eindringt, ist im Trudelhaus nie gänzlich auszuschliessen. Eine Glühbirne bringt ein wenig Licht ins Dunkel. Kunstlicht ist eine Insektenfalle, Abertausende fliegen tagtäglich in den Tod. André Bless’ Irritation erwächst einer Projektion. Wie Schimmelspuren haften leicht perlmuttern glänzende Schablonenformen an der mit einem dicken Pinsel bestupften Wand. Die Zierdeckchen in Hülle und Fülle aus Katharina Bürgins Arbeit «Doilies galore» sind offensichtlich ausser Band und Rand geraten. Hängen sie, floaten sie? Sind sie tot, lebendig? Aus Hoodies und Schwimmhilfen formte Leo Bettina Roost Körper, die in der Umklammerung verharren. Der Charakter des Ausgeliefertseins haftet diesen Objekten an, lange bevor überhaupt an Individuen unter den verhüllenden Kapuzen gedacht wird. Hoodies sind ein Protestsymbol gegen Rassismus, Hoodies sind ein Zeichen der Stigmatisation. Hoodies wurden einst für die Arbeiter von Tiefkühllagern entworfen.
Slomo verweist als Akronym auf Slow Motion – Zeitlupe. Jeden Moment kann die Augenfalle an der Stirnwand zuklappen. . . Nehmen Sie sich die notwendige Zeit gegen die Verkürzung – der Entschleunigung zuliebe.
© Sabine Arlitt, Zürich, im Mai 2017