Seestechen
Doppelausstellung André Bless und Stefan Sulzberger im Kunstraum Kreuzlingen
- Mai - 4. Juli 2010
Einführungstext von Ines Goldbach
Ich möchte Ihnen nicht die Kunst erklären, vielmehr möchte ich Sie auf etwas aufmerksam machen; aufmerksam machen auf das, was Kunstwerke uns ermöglichen: Sie können unsere Wahrnehmung anstossen, sie verfeinern und vor allem können sie uns überraschen, so dass wir über uns selbst überrascht sind. Sie werden das merken, wenn Sie wieder diese Räume verlassen. Der gewählte Titel der Ausstellung gibt dieses überraschende Moment sehr gut wider: Seestechen. Das mag man verstehen, als ein in See stechen, ein Voranschreiten, sich aufmachen und ein Aufbrechen. Das mag man aber auch verstehen als ein ins Auge stechen. So brutal das klingen mag, so geläufig ist uns doch dieser Begriff: etwas sticht uns erst ins Auge, wenn es überraschend und irritierend ist.
Die beiden Künstler André Bless (lebt in Feuerthalen/Schaffhausen) und Stefan Sulzberger (lebt in Beggingen/Schaffhausen) haben für diese Ausstellung mit dem Raum gearbeitet, sind mit ihm einen Dialog eingegangen und haben hier Werke entstehen lassen. Das klingt zunächst einmal nicht allzu ungewöhnlich, und doch ist es das. Denn ich meine einerseits diesen Raum, in welchem Sie sich in diesem Moment befinden, mit seinem Untergeschosses, seinen Charakteristika, und den Sie nach und nach, also in der Zeit erleben können; ich meine andererseits aber auch den Raum, aus dem Sie gerade gekommen sind, den Aussenraum, mit dem See, seinem Mobiliar, seinen Spiegelungen und Lichtspielen, seinen ständigen Veränderungen. Das ist es, worauf ich Sie aufmerksam machen möchte, auf die Qualität der Werke von André Bless und Stefan Sulzberger und ihrem Umgehen mit dem, was uns umgibt. Denn so unterschiedlich diese Werke in vielem sein mögen, eines ist ihnen gemein: sie leiten uns dazu an, Dinge und Phänomene, die so vertraut zu sein scheinen, zu überdenken. Sie leiten uns an, das, was alltäglich erscheint, erneut zu überprüfen.
Das mag auch der Grund sein, weshalb sich die beiden befreundeten Künstler auf dieses Abenteuer einer gemeinsamen Arbeit eingelassen haben; gemeinsam deswegen, weil ihre Werke diesem Raum nachspüren, seinem Innen und seinem Aussen, und dabei auch dem nachgehen, was es für uns auszulösen vermag. Auch hat man bei beiden Künstlern den Eindruck, als überprüften sie selbst die Möglichkeiten, die bestimmte Formen und Gattungen wie Malerei, Architektur, Zeichnung oder Fotografie für sie bereithalten. Wenngleich für beide Künstler das Konzept eine grosse Rolle spielt, die Vorüberlegung, kommt nach diesem pla-nerischen, konzeptionellen Vorgehen immer auch die Realität hinzu, das künstlerische Rea-gieren auf das, was sie umgibt.
Die Malerei von Stefan Sulzberger veranlasst rasch zur Frage, welche Vorstellung von Male-rei wir eigentlich haben. Für seinen Gebrauch von Acryl-Farbe auf dünner Baufolie oder Ple-xiglas ist der Begriff Malerei gar nicht so leicht anzuwenden; bisweilen benutzt er Plexiglas-platten, auf denen er mit einem Pinselaufsatz, befestigt an einer Bohrmaschine flüssige Ac-rylfarbe in dynamischen Kreisbewegungen verteilt, so dass eine erstaunliche Bildtiefe ent-steht. Was für eine Vorstellung von Malerei lässt sich hier anwenden, eine Malerei, die auf Wände ausgreift, über sie hinweg in den Raum geht und teilweise Raumgrenzen aufhebt. Wuchernd ranken glänzend-farbige Malereibänder aus handelsüblichen Rettungsringen. Mit dem Luftkompressor hat Stefan Sulzberger hier die flüssige Farbe in diese regelmässigen, seifenblasenartigen Gebilde gebracht. Ausgeschnitten und an den Rettungsringen befestigt, scheinen sie in ihrer Fülle aus dem Objekt zu fliessen. Doch hat man damit alles erfasst? Es scheint alles benennbar und doch wirft seine Malerei gerade die Frage auf, wo die Grenzen zwischen Realem und Fiktivem, zwischen Benennbarem und Unbekanntem liegt, und wieweit Malerei gehen kann, um noch als solches definiert zu werden. Auch die grossen, unter-schiedlich ausgeführten dunklen Kreise an der Rückwand zeigen dies. Stefan Sulzberger hat auch hier auf einer dünnen, im Licht reflektierenden Baufolie flüssige Acrylfarbe aufgetragen und in einer raschen Armbewegung zu einem Kreis geschlossen. Mal ist der Farbauftrag und die Farbführung kräftiger, mal ist sie feiner, und hinterlässt dünnere oder dichtere Linien- und Kreisbänder, die sich überlagern, durchdringen, Tiefe und Schichten aufzeigen. Sie verwei-sen aber auch auf die erstaunliche Dynamik, die in dieser Malerei steckt – eine grosse Geste und Bewegung im Raum, die diesen zu durchdringen vermag und sich mal matt, mal glänzend, je nach einwirkendem Licht, von der Wand abhebt oder sich zart an die selbe anschmiegt. Stefan Sulzbergers gegenstandslose Malerei lässt viel Raum für Imaginationen, mit einem feinen Sinn für Humor; sie benennt, indem sie die Realität mit hineinnimmt, sei es durch Ge-genstände, sei es durch Architektur oder reale Lichtsituationen, und entzieht sich im gleichen Moment von all dem wieder.
Räume und Raumatmosphären aufzuspüren, die aus Licht, Architektur, Nachbarschaften, Klängen und der Wandlung von Tageszeiten geformt sind, ist es auch, was André Bless in seinen subtil-poetischen Interventionen interessiert. Trickreich sind seine Arbeiten, denn sie suggerieren oftmals etwas, das logisch, alltäglich und fassbar scheint, um ebenso in einem nächsten Moment das alles in Frage zu stellen. Etwa sind es spezifische Lichtreflexionen, die André Bless in einem Raum einfängt, sei es solche, die von natürlichen, sei es solche, die von künstlichen Lichtquellen herrühren. Werke wie „Sky“ auf der langen Ausstellungswand oder die Bodenarbeit „Seestücke“ sind erst und für diesen Ort entstanden. Begeht und umschreitet man die Werke scheint alles klar und logisch: Transparente Plexiglasplatten, durch die sich die am Boden liegenden Stahlröhren abzeichnen und sich das Licht von den Fenstern des Ausstellungsraumes sowie die Neonröhren der künstlichen Raumbeleuchtung spiegeln. Doch es bedarf eines genaueren, eines zweiten Blicks. Dann wird man erkennen, dass sich die realen Spiegelungen auf den transparenten Flächen in einem bestimmten Moment teils passgenau mit dem Vorhandenen übereinander legen. Was heisst das: André Bless verwendet Fotografien im Massstab 1:1 von eben dieser Lichtreflexion auf spiegelnden Flächen, also einem Zustand, der bereits Vergangenheit ist, fotografisch eingefangen, über den eine transparente Plexiglasplatte liegt und sich nun mit der Realität überlappt. Seine Arbeit „Schwärmer“ führt diesen Gedanken der Irritation, aber auch der Transformation weiter. Eine Stehlampe, die Licht auf die Wand abstrahlt und in deren Schein sich etwas bewegt. Insekten wie es schein, hört man sie nicht auch? Und doch ist alles anders. Mittels Projektion werden diese zarten Bewegungen auf die Wand gebracht, kombiniert mit Linien und Strukturen auf weissem Zeichenpapier, bei denen Bless mit Langzeitbelichtung bei Nacht die Flugbewegung von Insekten im Schein der Strassenlampe einfing und die Fotos, negativ kopiert, auf Zei-chenpapier gedruckt hat. Was ist real, was Fiktion? Wie sehr sich Orte verändern können mittels dieser feinen und subtilen Eingriffe, das werden Sie auch und besonders im Untergeschoss erleben, in welchem sich die Raumwahrnehmung grundlegend durch Projektion sowie durch Raumtöne verändert und transformiert wird. Das alles hat viel mit Sehnsucht zu tun, etwas einzufangen, was sich scheinbar immer wieder entzieht, diese zarten Momente von Lichtreflexionen und seinem Aufflackern, von Bewegungen und Spiege-lungen; von etwas, das nur für einen kurzen Moment sichtbar wird. Licht und Lichtphänome-ne werden nunmehr zu physisch fassbaren Momenten mit höchst sinnlichen Qualitäten.
Stefan Sulzbergers und André Bless’ Interventionen sind bisweilen irritierende Dialoge mit dem Raum. Sie legen auf der einen Seite die Raumqualität offen, formulieren und betonen sie, während sie sie im nächsten Moment von Grund auf in Frage stellen. Ihre Werke leiten dazu an, das Besondere hinter dem Alltäglichen wiederzuentdecken. Das über Bord werfen von festen Vorstellungen und Begriffen und Gattungen ist für sie zentral, um zu einem physischen Erleben von Malerei, Architektur, Licht, Raum und Zeit zu kommen, von Bewegung und Veränderung. Das Resultat kann die Intensivierung einer Situation sein, die uns erlaubt, aufmerksam zu werden für das, was uns umgibt, das scheinbar Alltägliche. Dass ist es, wo-rauf es hier ankommt. Nehmen Sie sich also Zeit, lassen Sie sich darauf ein, suchen Sie den zweiten Blick hinter dem ersten – und vor allem: lassen Sie sich überraschen, damit das „Seestechen“ zur Seh-Erfahrung werden kann.
Ines Goldbach